Carmignac’s Note
In den letzten Quartalen haben sich die Aktienmärkte in den Industrieländern sehr gut entwickelt: +16% für den S&P 500 und +31% für den Euro Stoxx 50 zwischen Ende September 2022 und Ende April 20231. Was für eine beeindruckende Trendwende, wenn man sich an die Stimmung der Anleger und Sparer im letzten Sommer erinnert! Ist dieser Höhenflug nun eine normale Entwicklung oder ein atypisches Marktverhalten? Lassen sich daraus Schlüsse für die kommenden Monate ziehen?
Der starke Kursanstieg erfolgte, nachdem die Märkte unter einer beispiellosen Straffung der Geldpolitik und den Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die Energiepreise gelitten hatten. Doch weder das allgemein erwartete baldige Ende der geldpolitischen Straffung vor einer voraussichtlich längeren Zinspause noch die allmähliche Normalisierung der Wirtschaftstätigkeit mehrere Monate nach Ausbruch der Kampfhandlungen oder die Abschwächung der Kerninflation in den USA seit Oktober allein können einen solchen Aufschwung rechtfertigen, der in Europa den gesamten Kursrückgang des vergangenen Jahres wettmachte.
Diesen drei unbestreitbar positiven Faktoren stehen mehrere Risiken oder ungelöste Probleme wie das angespannte Verhältnis zu China, die Schuldenobergrenze in den USA, die als hoch empfundenen Bewertungen an den US-Aktienmärkten oder spezifischere Herausforderungen wie die Energieversorgung gegenüber. Die Nachwirkungen der beispiellosen geldpolitischen Straffung müssen ebenfalls berücksichtigt werden. Dies zeigt die US-Bankenkrise: Die dadurch ausgelöste Kreditverknappung erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Rezession in den USA.
Allerdings dürfte eine Rezession aus unserer Sicht relativ moderat ausfallen. Denn eine tiefe Rezession würde angesichts der hohen Verschuldung des Staats - und Privatsektors ein Risiko für die Schuldentragfähigkeit darstellen, dessen sind sich die Zentralbanken vollkommen bewusst. Darüber hinaus könnte der Rückgang der Inflation einen Anstieg der Reallöhne zur Folge haben, der es den Verbrauchern ermöglichen würde, den wirtschaftlichen Schock zumindest teilweise abzufedern.
Dieses schwierige wirtschaftliche Umfeld, das sich jedoch nicht negativ auf die Märkte auswirkt, ist allerdings keine anormale Situation. Vielmehr kommt darin die paradoxe Entwicklung zum Ausdruck, dass sich die Märkte eher auf die extreme Positionierung der Anleger als auf die voraussichtlichen Auswirkungen der makroökonomischen oder geopolitischen Nachrichten konzentrieren, die sie laufend erreichen.
Die Straffung der Geldpolitik in den Jahren 2022 und 2023 sowie der Krieg in der Ukraine lösten eine Verkaufswelle an den Aktienmärkten aus. Dies führte zu einer extrem negativen Positionierung, die selbst in Anbetracht der Flut negativer Meldungen zu diesen beiden wichtigen Ereignissen übertrieben war. Diese Untergewichtung von Aktien ermöglichte es den Märkten, die Mauer der Angst emporzuklettern („A bull market climbs a wall of worry“).
Wenn die Positionierung im Hinblick auf die aktuelle Wahrnehmung der Marktteilnehmer zu negativ ist, kann dies zu einem deutlichen Kursanstieg führen. Wer den Einstieg verpasst hat, sieht sich gezwungen, Kursrücksetzer für Käufe zu nutzen. „Buy the dips!“ wird damit zum Motto derjenigen, die nicht ins Hintertreffen geraten wollen. Die Mauer wird erklommen und diese späten und erzwungenen Käufe sorgen nach Kursrücksetzern für weiteren Auftrieb, solange die Positionierung weiterhin zu schwach ist oder bis ein unerwartetes negatives – vorzugsweise exogenes – Ereignis eintritt, wie beispielsweise der Ausbruch der Corona-Pandemie Anfang 2020, der den paradoxen Anstieg des Jahres 2019 abrupt unterbrach.
Welche Entwicklung ist also in den kommenden Monaten zu erwarten, da die Aktienmärkte, wie für einen Spätzyklus typisch, zwischen der Hoffnung auf eine Pause bei der Straffung der Geldpolitik und der Furcht vor einer Konjunkturabkühlung hin- und hergerissen sind? Die Positionierung ist derzeit deutlich weniger negativ als noch im vergangenen Sommer. Doch es gibt noch immer große, stark unterinvestierte diversifizierte oder alternative Vermögensverwalter, die durch ihre derzeitige Untergewichtung dazu beitragen könnten, dass sich der Aufwärtstrend an den Märkten fortsetzt.
Darüber hinaus ist es angesichts der anhaltenden Risiken für Wirtschaft und Märkte erforderlich, dass schlechte Nachrichten an den Märkten in gute Nachrichten umgedeutet werden („Bad news is good news!“), wie dies im vergangenen Jahrzehnt der Fall war, als wiederholte konjunkturelle Schwächephasen für geldpolitische Unterstützung und eine üppige Liquidität sorgten, was die Bewertungen nach oben trieb.
Die US-Bankenkrise könnte eine solche schlechte Nachricht sein, die in eine gute Nachricht umgedeutet wird. Indem sie die Kreditvergabe bremst und die US-Notenbank dazu zwingt, das Finanzsystem mit Liquidität zu fluten, könnte diese neue Krise genau das bewirken, worauf die Marktteilnehmer schon so lange warten: einen Preisrückgang infolge einer Konjunkturabkühlung, die wiederum zu einer Lockerung der Geldpolitik der Zentralbanken führt. Die paradoxe Situation, dass die Märkte trotz schlechter Fundamentaldaten steigen, könnte sich fortsetzen, solange eine tiefe Rezession vermieden werden kann.