Edouard Carmignac greift zur Feder und kommentiert aktuelle wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Herausforderungen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
während unsere Volkswirtschaften sich nur mühsam aus ihrer Lethargie befreien, breitet sich COVID-19 in den USA unvermindert aus und wütet weiter in zahlreichen Schwellenländern. Eine zweite Welle wird im Herbst befürchtet, welche die Schließung angeschlagener Unternehmen zur Folge haben würde. Trotzdem verzeichnen die weltweiten Börsen Woche für Woche neue Höchststände.
Ergibt all das Sinn? Befinden sich die Märkte in einem Zustand der Schwerelosigkeit? Ihr Optimismus könnte einen Paradigmenwechsel einläuten, der durch unsere Ablehnung, Unsicherheit zuzulassen, diktiert wird. In der Vergangenheit wurden Rezessionen, wenn sie erst einmal als solche deklariert waren, mit aggressiven Geldpolitiken bekämpft, die meistens von schwachen Haushaltsmaßnahmen zur Ankurbelung der Konjunktur begleitet wurden. Nun wurden die Volkswirtschaften angesichts des Pandemierisikos zum Stillstand gebracht und die Gefahr einer Rezession durch Null- oder Negativzinsen allerorten sowie massive fiskalpolitische Unterstützungsmaßnahmen gebannt. Die Kosten der Krise für die reichen Länder sind daher enorm: knapp 10% des BIP, was fünf bis sechs Jahren Wachstum entspricht.
Ist das nachhaltig? Ganz sicher nicht. Doch solange der explosionsartige Anstieg der Staatsschulden im Wesentlichen von den Zentralbanken aufgefangen wird und praktisch alle Länder vergleichbare Unterstützungsmaßnahmen umsetzen, ist das Warten auf eine Erholung der Weltwirtschaft weniger angsteinflößend.
Für uns liegen die eigentlichen Kosten dieser Krise ganz woanders. Unsere Ablehnung, Unsicherheit zuzulassen, destabilisiert uns, da sie uns stärker vom Staat abhängig macht, Unternehmergeist schwächt und de facto ein Grundeinkommen schafft. Abgesehen von stärkerer wirtschaftlicher Abhängigkeit vom Staat kann der Vormarsch der Telearbeit schwerwiegende Konsequenzen haben. Warum sollte man nicht ab dem Moment, in dem die Präsenz eines Mitarbeiters nicht mehr erforderlich ist, in gleichem Umfang und zu geringeren Kosten Menschen in Marrakesch oder Bangalore einstellen? Und schließlich vernichtet die unerbittliche, von dieser Krise ausgelöste Beschleunigung der Digitalisierung zahlreiche Arbeitsplätze, die von unserem schleppenden Wachstum wohl kaum aufgefangen werden können. Was wird aus unseren Postmitarbeitern, nun da das Volumen an Briefsendungen deutlich zurückgegangen ist? Paketzusteller von Amazon?
Diese Analyse bestätigt ein weiteres Mal, dass unsere Anlageprozesse auf soliden Grundlage beruhen, wie bereits in früheren Schreiben dargelegt. „Für unser Anleihemanagement werden künftig nicht mehr die Zinsen, sondern die Kreditrisiken von Staats- und Unternehmensanleihen Priorität haben. Die Verwaltung von Wechselkursrisiken wird erneut salonfähig, und man wird insbesondere wieder den Reiz der ultimativen Referenzwährung, des Goldes, zu schätzen wissen. In der Aktienkomponente gibt diese Krise ebenfalls den von uns gewählten Leitthemen Auftrieb. Sie zwingt uns nämlich dazu, einen zunehmenden Teil unserer Tätigkeiten online zu erledigen: Arbeit, Einkäufe, Zahlungsverkehr, Spiele, Arztgespräche … Der Gesundheitssektor, seit jeher als Quelle für die Verlängerung unserer Lebenserwartung im Aufwind, gewinnt noch mehr an Bedeutung. Nicht zuletzt geht China als der große Gewinner aus dieser Krise hervor. Das Land hat sie im Alleingang gemeistert und seinen Produktionsapparat in beneidenswertem Tempo wieder in Gang gesetzt.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen angenehmen Sommer und viel Erfolg bei Ihren Investments.
Mit freundlichen Grüßen