Wir müssen uns an die Inflation gewöhnen

Veröffentlicht am
26. September 2022
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4 Minuten Lesedauer

Die nicht nachlassende Inflation überrascht die Marktteilnehmer immer noch, und die Gründe für den langfristigen Preisanstieg werden nicht ausreichend berücksichtigt. Dies bildet den Nährboden für einen dauerhaften Trend, meint Frédéric Leroux, Mitglied des Strategic Investment Committee von Carmignac.

Die Inflation, die 40 Jahre lang kein Thema war, ist zurück – und scheint die Anleger stark zu beunruhigen. Was ist aus Ihrer Sicht der Grund dafür?

Frédéric Leroux: Von den Finanzakteuren, die 1980 an der Börse aktiv waren, sitzen heute nur noch sehr wenige an den Bildschirmen. Ist diesen Akteuren die Erinnerung an die Jahre, in denen die Inflation in den USA und Europa bis auf 15 Prozent stieg, überhaupt noch präsent? Ich wage es zu bezweifeln … All jene, die heute noch daran glauben, dass ein Blick in die Vergangenheit zu verstehen hilft, was wir aktuell erleben und was uns erwartet, sollten die Geschichtsbücher zur Hand nehmen.

Wie weit muss man zurückblicken, um einen ähnlichen Zeitraum wie heute zu finden?

F. L.: Wenn man die Jahre 1965 bis 1980 betrachtet, lassen sich daraus viele Lehren ziehen. Die damals sehr hohe Inflation wurde durch einen Ölpreisschock ausgelöst, der eine lange ruhige Phase bei der Preisentwicklung beendete; der Ablauf war der gleiche wie jetzt gerade. Dennoch bin ich mir nicht sicher, ob die Marktteilnehmer die Preisexplosion nach der COVID-19-Pandemie schon als Anzeichen eines echten Inflationszyklus betrachten.

Wieso?

F. L.: Zurzeit laufen ihre Inflationserwartungen für die USA auf einen Rückgang in Richtung 2,75 Prozent bis Mitte 2023 und eine anschließende Stabilisierung auf einem Niveau von etwa 3 Prozent in den Folgejahren hinaus. Mit anderen Worten: Es wird davon ausgegangen, dass die derzeitige Teuerungswelle einfach wieder abebben wird, so wie es zwei- oder dreimal in den letzten 40 Jahren war. Es gibt jedoch mehrere strukturelle Inflationstreiber, die man berücksichtigen sollte.

Welche?

F. L.: Die demografische Entwicklung (weniger Sparer weltweit, weniger junge Menschen in China, die auf den Arbeitsmarkt drängen) den Handel ( sinkender Anteil des Welthandels am Bruttoinlandsprodukt, mögliches Ende des Preisverfalls im Onlinehandel usw.), gesellschaftliche Faktoren (Vorrang ethischer Erwägungen gegenüber schnellen Erfolgen) und die Folgen der Energiewende.

Also lauter Faktoren, die die Inflation weiter anheizen können ...

F. L.: Genau. Außerdem ist nicht gesagt, dass ein paar Zinserhöhungen die Inflation langfristig zum Verschwinden bringen. Genau darauf hoffen aber die Zentralbanken, deren Hauptaufgabe die Gewährleistung der Preisstabilität bei einem langfristigen Wachstum ist.

Was müsste passieren, damit die Preise zumindest kurzzeitig sinken?

F. L.: Es müsste eine Rezession in den USA geben. Das wäre notwendig, um den Preisanstieg abzumildern, dürfte aber auf kurze Sicht nicht der Fall sein …

Warum?

F. L.: Heutzutage wären Entscheidungen, wie sie 1980 in den USA gefällt wurden, kaum vorstellbar. Paul Volcker, der damalige Präsident der US-Notenbank Fed, hob die Leitzinsen auf 20 Prozent an, und die Inflation ging auf etwa 10 Prozent zurück. Übrigens entließ der US-Präsident Ronald Reagan im gleichen Jahr 11.400 Fluglotsen aus dem Staatsdienst – mit der Begründung, dass sie sich an einem illegalen Streik für mehr Lohn beteiligt hätten.

Das kann man sich in der Tat heute nicht vorstellen.

F. L.: Zwischen 1965 und 1980 wurden darüber hinaus immense Investitionen im US-Ölsektor getätigt, um nach dem Ölpreisschock von 1973 die lokale Förderung auszubauen, was heute auch undenkbar erscheint.

Viele glauben, dass mit einem Ende des Krieges in der Ukraine auch der Anstieg der Energiepreise schnell vorbei wäre. Wie sehen Sie das?

F. L.: Solange man nicht von einem Rücktritt Wladimir Putins ausgehen kann, ist nicht gesagt, dass die früheren Versorgungsquellen umgehend wieder zur Verfügung stehen würden. Alternative Lösungen stehen noch nicht bereit, und gleichzeitig treibt der Rückgang der Investitionen in fossile Energien die Preise seit fast zehn Jahren unausweichlich nach oben. Dass wir mit einer Energiekrise konfrontiert sind, obwohl China stillsteht, zeigt im Übrigen, wie ernst die Lage ist.

Und was ist mit den Löhnen, die angesichts des Preisanstiegs ebenfalls steigen könnten?

F. L.: Die zusätzlichen Ersparnisse, die die US-Verbraucher während der COVID-19-Krise bilden konnten, entsprechen 12 Prozent des US-BIP. Dadurch befinden Sie sich bei Lohnverhandlungen mit den Arbeitgebern in einer starken Position. Der durchschnittliche Lohnanstieg in den USA liegt seither im Durchschnitt bei 7 Prozent. Wenn die Inflation wieder zu sinken beginnt, könnte der Lohnanstieg an Fahrt verlieren, aber natürlich geschieht das langsamer.

Eine gute Nachricht für Lohnempfänger und das Wachstum ...

F. L.: Ja, denn das wird dazu führen, dass die Reallöhne, d. h. die inflationsbereinigten Löhne, steigen. Dies wird zwar den Konsum und damit auch das Wachstum antreiben, aber auch die Disinflation – die Verlangsamung der Teuerung – bremsen ... Eine Rezession erwarte ich daher auf kurze Sicht nicht.

Heißt das, dass die Inflation uns noch lange begleitet?

F. L.: Ja, und wir werden uns daran gewöhnen müssen. Die nicht nachlassende Inflation, die lange Zeit als „vorübergehendes Phänomen“ eingestuft wurde, überrascht die Anleger immer noch, und die Gründe für den langfristigen Preisanstieg werden nicht ausreichend berücksichtigt. Dies bildet den Nährboden für einen dauerhaften Trend. Angesichts der heute recht niedrigen Schmerzgrenze ist es sehr wahrscheinlich, dass die Zentralbanken schon beim ersten Anzeichen eines Rückgangs der Kerninflation umgehend die Zinsen senken – was zu früh wäre.

Welche Folgen hat dies für Anlagen?

F. L.: Die Rückkehr der Inflation hält den Konjunkturzyklus aus Expansion, Rezession und Erholung am Laufen. Denn die Zentralbanken sind in dieser Situation gezwungen, mit ihrer jahrelangen Praxis, die Zinssätze künstlich niedrig zu halten, zu brechen. Dieses Umfeld, das für viele völlig neu ist, begünstigt aktive Verwaltungsansätze1 , und zwar entgegen der allgemeinen Überzeugung auch im Anleihebereich.

Was bedeutet das?

F. L.: Ein inflationäres Umfeld bedeutet nicht, dass die Anleihenallokation zurückgefahren werden muss. Wendepunkte der Inflation sind Schlüsselmomente, die ausgeprägte Marktbewegungen nach sich ziehen können. Durch ein aktives, an der Zyklizität der Konjunktur ausgerichtetes Anleihemanagement lassen sich Strategien umsetzen, die einen wichtigen Beitrag zur Performance von Portfolios leisten können.

Und im Aktienbereich?

F. L.: Zum einen bevorzugen wir ein hohes Engagement in sogenannten defensiven Titeln, z. B. aus den Sektoren Gesundheit oder Basiskonsumgüter, über die sich die Auswirkungen einer Rezession abmildern lassen. Zum anderen investieren wir in Unternehmen, die im Gegensatz zu den meisten Titeln vom Inflationsdruck profitieren können, insbesondere aus dem Energiesektor.

1Unter einem aktiven Anlageprozess bzw. einer aktiven Verwaltung versteht man die Auswahl von Finanzanlagen (Aktien, Anleihen, Währungen usw.), die sich besser entwickeln dürften als andere Anlagen, sowie die Anlage in diesen Vermögenswerten zum besten Zeitpunkt. Bei einer passiven Verwaltung hingegen soll ein Börsenindex nachgebildet werden.

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